Die Tage haben wieder einen längeren Atem. Unter dem sexy Lächeln der Sonne schmilzt selbst die widerspenstigste Schneedecke nur so dahin. In den Beinen juckt und zuckt es. Sie werden gierig nach Auslauf in frischer Frühlingsluft. Ex-Wintermenschen stecken ihre blassen Nasen und erwartungsvollen Augen zur Tür hinaus. Laufschuhe und Fahrräder dürfen ihre finsteren Kellerverliesen verlassen. Helles Frühlingslicht versucht dunkle Winterschatten aus Geist und Seele zu vertreiben. Es geht wieder leichter: Das Aufstehen, das Lächeln, das Leben. Und wir gehen auch wieder lieber: Zu Fuß. Das Gehen ist eine wunderbare Sache. Ein archaisches Ding. Vom gemütlichen Flanieren bis zum sportlich-flotten Walken – Gehen ist Lebenskultur. Lebenselixier. Geht man um des Gehens willen, denkt über sein Leben nach, über den Sinn und Unsinn seines Daseins, versucht seine Gedanken zu ordnen, seine Gefühle zu verstehen, betet und spricht man vielleicht zu dem „Einen Spaziergeher“ auf der anderen Straße jenseits aller uns bekannten Wege, betet man für sich selbst, bittet für andere, dann wird das Gehen zum Pilgern. Pilgern ist derzeit total en vogue. Alte Pilgerwege werden aus dem Dornröschenschlaf wach geküsst. Neue feierlich aus der Taufe gehoben. Mancher Pilgerzeitgenosse ist hier mal weg und dort am Jakobsweg unterwegs. Eine ausgedehnte Pilgerreise ist wunderschön aber auch sehr zeitintensiv. Man muss es sich leisten können, für ein paar Wochen zuhause alles liegen und stehen zu lassen und abzutauchen bzw. abzupilgern. Derart viel Freiheit und Zeit haben die allerwenigsten. Muss auch nicht sein! Man kann sofort mit dem Pilgern beginnen, ohne große Vorausplanung. Heute! Hier! Jetzt! Ab durch die Mitte! Der Pilgerweg: Unser Alltag. So mutiert der Fußweg zum nächsten Supermarkt zum Mini-Jakobsweg. Ebenso der Gang zur Arbeit. Unser Leben ist ein Weg – ein Lebensweg eben. Ein mehr oder wenig langer Pilgerweg. Hin und wieder kann er zum Kreuzweg werden. Bei Verlust, Trauer, Krankheit… Wenn man zum Finanzamt geht oder der Bräutigam zum Standesamt. Wir pilgern. Zu unseren Lebenszielen. Oft geht es gerade darauf zu. Ein andermal machen wir viele Umwege. Geraten dabei nicht selten auf Abwege. Rückblickend kommt man aber drauf, dass gerade dieses Verlassen des „geraden Weges“ das Beste war, was einem passieren konnte. Auf diesen „schiefen Wegen“ kann man die schönsten und wertvollsten Entdeckungen machen. Die interessantesten Begegnungen. Dürfen reifen. Treffen genau dort wahre Freunde. Die große Liebe. Die Bestimmung im Leben. Unsere Lebens-Pilgerwege fordern uns heraus. Weggabelungen und Kreuzungen erwarten Entscheidungen. Bei gleichzeitiger Unsicherheit: „Was wäre, wenn ich die andere Richtung genommen hätte?“ So bleibt unser Pilgerweg immer ein Abenteuer. Ein konkretes Beispiel für einen Mini-Pilgerweg: Einkaufen-Gehen: Lassen Sie Smartphone und andere Ablenkungen daheim liegen. Gehen Sie gemütlich, tief ein und ausatmend los. Sie können Mantras wiederholen, persönliche Gebete sprechen. Murmelnd oder gedankenleise. Auf diese Weise werden krümmende Gedanken schwächer. Oder Schnabel mal zu und schweigen! Während der Minipilgerwege kann man seinen Körper „durchchecken“. Schnellscan vom Scheitel bis zu den Zehenspitzen. Verspannungen lokalisieren und loslassen, die Atmung nachjustieren, gebeugte Rücken zurecht-Rücken, Mundwinkelstatus prüfen (hängend oder ein Hang zum Lächelnden??), seine Gedanken durchleuchten, diese Gedanken urteilsfrei kommen und ziehen lassen, wie die Wolken am Himmel, mit seinen Gefühlen plaudern, sein Herz befragen, die Achtsamkeit an der Hand nehmen und auf die Mini- Pilgerreise mitnehmen… Ich bin dann auch mal weg! Hab heute noch ein paar Pilgerwege vor mir. Wie schaut es bei Ihnen aus?