„Linse, Linse in meiner Hand, wer ist der Mittelpunkt im ganzen Menschenland?“ „Selfies“ sind schwer angesagt. Ob bei den blitzlichtbelichteten „Oscars“, den zwanghaft-permanentlustigen Faschingsgilden, beim alljährlichen Betriebsausflug, bei der mehr oder weniger peinlichen Weihnachtsfeier, beim fulminanten Grönemeyer-Konzert, bei der Sightseeingtour mit dem Fiaker durch Wien, bei den „Über-Den-Roten-Teppich-Geh-Menschen“ dieser Welt, bei der Geburtstagsfeier von der Rosi-Tante, auf der atemberaubenden Spitze des Eifelturms, in den düsteren Katakomben unter der „Ewigen Stadt“. Gemeinsam mit dem Grabstein von Michael Jackson, mit einem um die Welt reisenden Stofftier, mit dem neusten Modell von Porsche auf der Genfer Autoshow, in der neuen Unterwäsche von „Victoria´s Secret“, ohne Unterwäsche, nur mit dem Blitzlicht bekleidet, mit einem A-, B-, C-, X-,Y-Promi, in der Hoffnung, dass ein wenig Berühmtheit an einem selbst haften bleibt … Allerorts werden Selfies geschossen. Auch dort, wo einst scharf geschossen wurde, auf Frauen, Männer, Kinder, auf Anders-Seiende, Anders-Denkende, Anders-Aussehende – in Auschwitz, Mauthausen, Dachau und ähnlichen Höllen organisierten Mordens. An Stätten, wo man stilles Gedenken, Mitgefühl, Sprachlosigkeit vermuten würde, da stellen viele „homo-selfies-selfies“ sich und ihren Darstellungsdrang in das Zentrum ihres Selfie-Universums. Vielleicht liegen die Indianer richtig, wenn sie meinen, dass jedes Foto von sich ein wenig Seele vernichtet?! Selfies wollen – wie der Name schon sagt – das Selbst darstellen. Bloß welches Selbst? Etwa „gnothi seauton – erkenne dich selbst!“, jenes Selbst, das man an der Orakelstätte von Delphi zu finden suchte? Wohl kaum. Das „Selfie-Selbst“ ist ein Artgenosse des kleinen Selbst, das vom ängstlichen Ego rund um die Uhr getätschelt wird. Diesem Selbst geht es nicht um Selbsterkenntnis, vielmehr um Selfie-Verliebtheit. Ich taufe dieses kleine Selbst naheliegend „Selfie“: Im Namen des Geltungsdranges, der Selbstinszenierung und des Heiligen Narzissmus! Amen. „Selfie-Erkenntnis“ ist ein Erkennen von jenem Selbst, das man sich vorher detailgenau zurechtgebastelt hat. Das wenig menschliches Wachstum zulässt, da es nichts Anderes mehr zu entdecken gibt. Man beweihräuchert sein „Selfie-Selbst“. Daher schreiben schon sehr junge und „prominente“ Zeitgenossen ihre „Auto-Selfiegraphien“. Für ihre „Selfie-Fangemeinde“. Und werden uns so als „Selfie-Vorbilder“ eingeredet. Sterile medial befruchtete „Selfie-Retorten“ aus dem Labor der Eitelkeiten. Ohne gelebtes Eigenleben. Designt für den Zeitgeist. Ohne wirkliche Substanz. Von geringer Lebensdauer. Keine Selfmade-Persönlichkeiten mit Ecken, Kanten, Höhen, Tiefen, Reibeflächen, Tragik, Komik, Identifikationsseelen. Wie Elvis, Gandhi, Reinhold Messner, Sophie Scholl, Karl Valentin und Liesl Karlstadt, Oskar Werner, Dietrich Bonhoeffer, Bruce Lee, Edith Piaf, Thomas Bernhard, Andy Warhol, Christine Lavant, Maximilian Kolbe, Amelia Earhart, Clara Immerwahr, Ingeborg Bachmann, Hermann Hesse, Hildegard von Bingen, Oskar Schindler… Heute genügen Casting-Exhibitionismus, TV-Peinlichkeitsdschungel oder ein „zufälliger“ Busenblitzer, um als „Idol“ durchzugehen. Hinter vielen Selfies an allen möglichen und noch mehr unmöglichen Plätzen steht eine eigentümliche Angst: Nicht gesehen zu werden. Nicht wahrgenommen zu werden. Übersehen zu werden: In der Anonymität einer immer unpersönlicher werdenden Zwischen-Selfiegkeit. Selbst wenn die Kameras aus sind, bleibt die Selfie-Mentalität trotzdem an.