Wenn ich ein Kind wäre, wäre das anders. Meinen ersten Hund bekam ich von meiner Großtante Jella. Onkel Kurt starb, und der hatte zwei wertvolle Königspudel mit edlem Stammbaum, die im Lenbachgarten in Starnberg
auf Jagd gingen. Tanja war eine der beiden Königspudel. Und Tanja riss mit Donjo, dem anderen Königspudel, Hasen, Wildkatzen und Rehe. Tante Jella musste sich um die Beerdigung von Onkel Kurt in Köln kümmern und fragte
meine Mutter, ob ich mich nicht ein halbes Jahr um Tanja kümmern könne. Ich war fünf, tiernärrisch wie alle Kinder, und mein anderer Onkel Gerd hatte mir gerade einen kleinen schwarzweißen Hasen geschenkt. Hoppel.
Ich nahm Tanja am Halsband, strich ihr über den grauen Pelz und flüsterte ihr ins seidene Ohr, dass sie gerne bei mir bleiben könne. Nur mit Rehe reißen und Hasen jagen wäre dann eben nix mehr. Dann stellte ich ihr Hoppel vor. Hoppel ließ ich jeden Morgen aus seinem Stall raus. Der war gegenüber von Frau Obkirchners Gemüsegarten. Dort wuchs Tante Jellas Salat, um den sich Frau Obkirchner kümmerte. Den mochte Hoppel gerne.
Es dauerte nicht lange, da wurde aus dem Zwergkaninchen von Onkel Gerd ein 12-Kilo-Hase. Jedenfalls durfte Hoppel auf den 1000-Hektar-Grund namens Lenbachgarten einfach herumhoppeln. Mit den Wildkatzen und den Rehen.
Jeden Abend ging ein kleines fünfjähriges Mädchen zum Stall, zupfte Tanja an den seidenen silbergrauen Ohren und sagte: „Tanja, such den Hoppel.“ Tanja spürte Hoppel im Park auf und trieb ihn zu dem kleinen Mädchen, das den Hasen jeden Abend in die Arme nahm und hoch in seinen Stall hievte. Und am nächsten Morgen durfte er wieder raus.
Das kleine Mädchen liebte Tanja. Und Tanja liebte dieses kleine Mädchen. Sie streifte mit ihr auf Abenteuer durch den Park, tat keinem Tier mehr was zu Leide. Trieb abends Hoppel zum Stall. Lag nachts an ihrem Bett. Wich keinen Meter von ihr. Und wenn das kleine Mädchen mal weg war, dann büxte Tanja aus und suchte nach ihr. Die drei waren dicke Freunde. Tanja, Hoppel und Marion. Unzertrennlich. Glücklich.
Es hielt ein Jahr. Eine zu kurze Kinderewigkeit. Bis zum ersten Schultag. Eine Blaskapelle zog an der Schule vorbei. Und die Mama holte ihr Kind von ihrem ersten ernsten Lebenstag ab. „Wo ist Tanja?“, brüllte das Mädchen gegen die Blechbläser an. Die Mutter brüllte: „Tante Jella möchte sie zurückhaben.“ Das Mädchen lief so schnell es konnte nach Hause. Sah Tanja noch an der Heckscheibe kratzen, während der graue Mercedes Benz durch das weiße Tor fuhr. Tanja jaulte. Diesen Schmerz vergaß das Mädchen nie. Und nie, wie gemein Erwachsene sein können. Das Mädchen wünscht sich jetzt, viele Jahre später, die Sprache der Kinder zu sprechen. Menschen und Hunden ins Ohr zu flüstern: Bitte tu keinem Lebewesen weh. Die Kindersprache ist universell, der kleine Israeli versteht sie, der Königspudel, das pakistanische Mädchen, der Löwe, die Massai-Kinder, das Pferd, der Inuit-Junge und der Foxl-Husky-Verschnitt – nur leider Erwachsene nicht. Sie haben diese Sprache irgendwann in ihrem Leben einfach vergessen, verloren.